Herrmann Asien: Über die Langeweile

Wie konnte es für eine Person des 21. Jahrhunderts, die ihrer Gegenwart entsprechend lebte, sich Technikfortschrott (eigentlich ein Vertipper – das i liegt auf der Tastatur gleich neben dem o – da es aber ein sehr, sehr dummes und langweiliges Wortspiel ist, lasse ich es drin im Text, auch weil die Erklärung für das Drinlassen so schön egal und überflüssig ist + die Klammer nach dem Schließen vergessen lässt, wie der Satz eigentlich weiter oben begonnen hat) und Arbeitswelt nicht verweigerte, überhaupt so etwas wie Langeweile geben?

1. Texte generell immer mit einer sehr langen Frage beginnen.

Sie muss nicht unbedingt polemisch sein, aber es kann helfen, wenn sie sehr verallgemeinernd gestellt ist, z. B. „Alle Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig, so dick und eng oder so dünn und weit sie ihre Netze auch gespannt haben, ob fette Kreuz- oder langbeinige Schnakenspinne – Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“

So wird zu Beginn gleich ein Problem beschrieben (die „Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lusitg“), dem eine mögliche Erklärung mitgeliefert wird (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“), die allerdings erst bewiesen werden muss (daher als Frage gekennzeichnet wird). Je entfernter das Problem („Spinnen vor meinem Küchenfenster machen sich insgeheim über mich lustig“) und seine Erklärung bzw. Lösung (“Ist ihnen vielleicht einfach langweilig?“) voneinander sind, desto mehr Spannungsmöglichkeiten eröffnen sich im fortlaufenden Text.

„Heuer ging es famos in die erste Runde der schlecht verdichteten Zugriegelbausteine, falls noch Interesse daran bestünde, liebe FB-Freunde, bitte nur per PN melden.“

Spätestens hier steigen Leser*Innen aus der Lektüre aus, da nicht nur kein direkt erkennbarer Zusammenhang mit dem vorangestellten TextTEASER – wie wir Journos zu sagen pflegen – besteht, sondern auch der semantische Kitt dieser Wortzusammenstellung undefinierbar bleibt. Was sind „Zugriegelbausteine“? Von welcher „Runde“ sprechen wir? Weshalb ist von sozialen Netzwerk „Facebook“ (FB) die Rede? Und was haben die eingangs erwähnten Spinnen vor Küchenfenstern damit zu tun? Statt eines langsamen detektivischen Erklärungsspiels, wirft der Text nur noch weitere kryptische Rätsel auf. Das Interesse der Leser*Innen versiegt. Was sich allerdings inhaltlich nach diesem scheinbar zusammenhangslosem Einstieg abspielt, kann nur mit folgender, gleichnishafter Short Story aufgelöst werden:

Die Frau, die aus Langeweile die Welt rettete und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstörte

Als sozialem Geschlecht „Frau“ der klaren biologischen Kennzeichnung „Phänotyp weiblich“ und dazu in Relation stehend, dem Menstruationszyklus (volksmundig Monats- oder Regelblutung, Emma, „Hast du auch wieder ein Schwein geschlachtet“ genannt) ausgeliefert, als Mutter nicht nur mit dem Austragen, sondern auch mit dem Gros der Erziehung der Kinder beschäftigt, zusätzlich dem sexistisch-patriachalen Sozialgefüge unterworfen, konnte es Langeweile streng genommen nur in einem geschützten, konsequenzlosen Raum geben. Etwa in einer idyllischen Nachmittagsszene auf dem bürgerlichen Gartengrundstück eines Charlotte Brontë Romans (ohne die Anwesenheit der Männer und Kinder) oder eben in folgender kleiner, von mir völlig frei erfundener Geschichte:

„Boah, ist mir langweilig!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. Lange war der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde, nicht mehr so langweilig gewesen wie in diesem Moment, als sie, die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, feststellte, dass ihr, der Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile zerstören würde, unglaublich langweilig war. „Erstaunlich!“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) aus Langeweile wieder zerstören würde. „Was fange ich denn jetzt mit mir an?“, fragte sich die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) ebenfalls aus Langeweile wieder zerstören würde. „Ich könnte“, fuhr die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, in Gedanken fort, „die Welt retten.“ Die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, kontemplierte eine lange Weile über diesen Gedanken und entschied schließlich: „Aber jetzt noch nicht!“ Sie hatte vage in Erinnerung, dass der Literaturnobelpreisträger Peter Handke ein Buch über die Langeweile geschrieben hatte. Es hieß, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, „Über die Langeweile“ hatte sie nie gelesen (ich übrigens auch nicht) und hatte das auch nicht vor. „Wie langweilig muss mir sein, dass ich Peter Handke lese?“, dachte die Frau, die aus Langeweile die Welt retten und sie anschließend (Achtung: Spoiler!) wieder aus Langeweile zerstören würde, und drückte auf den Weltzerstörungsknopf der Weltzerstörungsmaschine, vor der sie schon die ganze Zeit gesessen hatte. Flugs darauf änderte sie ihre Meinung aus einer Laune (Langeweile?) heraus und rettete die beinah zerstörte Welt, indem sie den Weltrettungsknopf betätigte. Kurz danach drückte sie aber doch nochmal (Achtung: Switcheroo!) auf den Weltzerstörungsknopf (absichtlich).

Um zu einem befriedigenden Ende eines jeden Textes zu gelangen, empfiehlt es sich, einen schönen Bogen zum Anfang zu schließen. Folgende Zeichnung kann für diesen Zweck stellvertretend eingesetzt werden:

Ein Strichmännchen mit ausgestreckten erhobenen Armen und grimmigem Mondgesicht steht neben einem von oben herabhängendem laufenden Duschkopf. In einer großen Sprechblase über dem Strichmännchen stehen folgende zwei Sätze: „Unter diese Dusche geh ich nicht! Diese Dusche nehm’ ich nicht!“

Herrmann Asien: Kalle ist nur einmal im Jahr

Holger steht vor dem Terminal C des Flughafen Tegel. In seiner rechten Hand der verlängerte Arm seines Rollkoffers. In der anderen die Hand seines Freundes Kalle, der einen großen Reiserucksack schultert. Kalle blinzelt wild mit den Augen. Speichel tropft aus seinem Mundwinkel auf die wetterfeste Gore-Tex-Jacke. Sie spannt sich wie ein Zelt über seinem enormen Kugelbauch.

“Wie wir das besprochen haben: Du gehst, wenn ich gehe, du stehst, wenn ich stehe, du lässt meine Hand nicht los.”

Kalle muss cool bleiben. Er ist eigentlich recht klar im Kopf, nur die Menschen machen ihn wirr. Zu viele sind es hier. Sie warten an den Eingängen, sie stehen vor den Geschäften, schlängeln sich vor den Schaltern und drängen sich auf den Toiletten. Und dazwischen die Polizisten mit ihren lackierten Maschinengewehren. Kalle muss da einfach hingucken. Holger hat Mühe, seinen schweren Freund auf Kurs zu halten. Er nickt den Polizisten zu, die meist zu zweit an den Biegungen stehen. Die Polizisten denken, dass Kalle behindert ist und nicken deshalb freundlich zurück.

Kalle ist einfach sehr weich heute. Er ist von Kopf bis Fuß auf Reise eingestellt. Vorhin im Zug, als die Unruhe trotz Xeplion, dass Holger ihm erst am Morgen gespritzt hatte, nicht mehr auszuhalten war, hatte Kalle noch eine Benzodiazepin nachgeschoben. Die lässt jetzt seinen Mund leicht offenstehen und knipst das Krokodilgehirn an. Kalle sieht die Maschinengewehre matt glänzen wie Haribo-Lackritzschnecken. Er möchte hineinbeißen. Vor dem Zeitungsladen bleibt er so abrupt stehen, dass Holger ins Stolpern gerät.

“Mensch Kalle, du gehst, wenn ich gehe!”

Kalle murmelt ein dumpfes “Tschuldige” zwischen seinen trockenen Lippen heraus; es rollt aus seinem Mund wie ein Wollknäuel. Regentropfen aus Schweiß sammeln sich auf seiner Stirn. Kalle stöhnt und japst und im offenen Gang zwischen Terminal C und D weht ein so kühler Wind, dass ihm ganz kalt wird im Kopf. Am liebsten würde er sich jetzt hinsetzen, aber Holger zieht mit aller Kraft voraus. Kalle konzentriert sich auf jeden einzelnen Schritt und zählt dabei die Fliesenkacheln, die unter seinen Füßen nachzugeben scheinen. Viel zu häufig tritt er über die Fugen hinaus; Zeit sich darüber zu ärgern, bleibt ihm nicht. Aus den Lautsprechern schallt eine lärmende Frauenstimme, die auch Holger nicht verstehen kann. Irgendjemand verpasst seinen Flug. Eine sechsköpfige Familie verperrt ihnen den Weg; alle haben mit ihren eigenen Gedanken zu tun und Kalles Beine fühlen sich an wie Kartoffelbrei.

Vor der Sicherheitskontrolle wird Kalles Kopf ganz dick. Er schwillt von innen an, drückt gegen die Stirn, quetscht sich an die Backenknochen vorbei, quillt ihm aus der Nase. Kalle bekommt den Reißverschluss seiner Gore-Tex-Jacke nicht auf, dabei soll er sie doch auf das Fließband legen. Der Rucksack ist schon durchleuchtet und wartet auf der anderen Seite. Gleich berstet Kalles Kopf, er kann es schon spüren, es knirscht zwischen den Blumenkohlohren, gleich platzt er auf wie eine zusammengeprügelte Piňata. Holger hilft, so gut er kann, aber Kalles Riesenhände krampfen sich fest, er kommt nicht dagegen an. Da ist nichts zu machen. Als Kalle den Reißverschluss endlich aufbekommt, stöhnt er so tief und laut, dass sich auch die Leute in der Schlange gegenüber nach ihm umdrehen. Er hört nicht, was Holger zu ihm sagt, er versteht auch die Sätze der Securitas-Leiharbeiterin nicht, die auf ihn einredet, er sieht nur, dass sich ihre Lippen bewegen und dass ihre schwarzen Schuhe glänzen. Nicht wie Lakritz, sondern wie eine kalte Bierdose von 5,0. Kalle nimmt alles zugleich wahr: Das Fließband, dass sich links neben ihm bewegt, das Piepen der Metalldetektoren, die Fugen zwischen den Bodenfliesen. Das Knistern der Stille.

Gleich knallt es.

Aber zuerst muss er mit seinem roten Zementballon, der auf seinen Schultern schwankt, auf die andere Seite gelangen. Kalle überlegt, ihn einfach hinüber zu werfen, über die Sicherheitsleute drüber, über den Metalldetektor bis in den Duty Free Bereich zu den Parfüms und der Schokolade.

Holger fasst ihm von hinten mit beiden Händen an die Schultern. Das gibt ihm einen Schub. Kalles Elefantenbeine stampfen vorwärts. “Immer geradeaus”, hört er Holger sagen, der zwar hinter ihm steht, aber doch ganz weit weg ist.

Die Securitasangestellten sind sehr nachsichtig. Kalle darf sogar seine Schuhe anbehalten, bevor er durch das Stargate schreitet. Während der persönlichen Kontrolle macht die Sicherheitsfrau Witze, als stünde ein kleines Kind vor ihr und kein einsneunzig Goliath samt seiner hundertdreißig Kilo. Kalle will lachen, doch er schnaubt nur laut durch die Nase und sprüht kalte Schweißtropfen auf ihren dunkelblauen Dienstpullover. Als Holger den platschnassen Kalle wieder vollgepackt hat, grummelt er sich dunkel durch den Duty Free Bereich. Geschafft, denkt Holger. Er sieht seinen Riesen langsam durch das Schlaraffenland wanken.

“Scheiß drauf!”, sagt Holger laut, er singt es fast und die Leute drehen sich nach ihm um. “Scheiß drauf!”, ruft er erneut, lauter dieses Mal. Die Worte dringen in ihrer Bedeutung nicht durch Kalles Wattemauer, aber ihr Singsang tut es. Kalleparty im Schädel, Bühnenbeleuchtung, Arm in Arm mit fremden Menschen. Alle kennen die Texte. Kalle bleibt stehen. Jetzt lächelt er.

Es gibt einen Riesenknall.

“Scheiß drauf!”, donnert es durch den Duty Free. Ein Erdbeben von Jil Sander bis Toblerone. In Kalles Kopf tanzen die Neuronen nur einmal im Jahr. Scheiß drauf.