Stefan Lienerth: Grauen

Morgenstund hat Gold im Mund, Morgengrauen hingegen hat keine Dritten weil es gesunde Zähne zum zubeißen braucht. Dann beißt es sich fest im Nacken und lässt den Tag über nicht mehr los. Mit dem Morgengrauenatem in deinem Nacken stehst du nackt neben der Dusche und frierst, weil das Wasser zu heiß ist, um drunter zu steigen.
Ab einer bestimmten Uhrzeit zählt es nicht mehr als Morgengrauen sondern wird zum Mittagsgrauen und Abendgrauen. Es graust dir schon vorm grauen Kaffee der aber sein muss sonst fällt das Grau auf. Fest im Nacken gepackt beißt es immer tiefer und durchdringt mit seinen spitzen Zähnen die Haut und spritzt durch seine Fänge grau in deine Nervenbahnen direkt zum Gehirn.
Du musst zur Arbeit und gehst durch ein graues Treppenhaus zu deinem grauen Opel (das ist die graueste aller Automarken). Du setzt dich an deinen Arbeitsplatz vor den Bildschirm der nur Graustufen anzeigt. Nennt man eigentlich schwarz-weiß, passt aber nicht. Blick aus dem Fenster – Graupelregen.
Du denkst dir ‚Könnte schlimmer sein‘ und dich durchfährt das nackte Grauen beim Blick auf die Uhr. Du hast von deinem acht Stunden Arbeitstag noch sieben Stunden und 59 Minuten übrig. Zum Mittagessen gibt es Brot mit ist-auch-egal.
Du weißt nicht mehr ob du Graubrot oder Vollkorn gekauft hast – es sieht sowieso gleich aus. Wieder Zuhause kommt dann auch deine Freundin irgendwann an, aber von dem Feuer der Liebe ist nur noch graue Asche übrig. Du würdest sie als eine eher unscheinbare Frau beschreiben.
Ein Mauerblümchen sozusagen, aber dir fällt dazu kein treffenderer Begriff ein. Du siehst ein Morgengrauen an ihrem Nacken hängen und fragst sie wie ihr Tag war. Du fragst dich bei dem Anblick ob es da einen Zusammenhang zu dem Grau in Grau gibt. Du gehst in die Küche und bist dir nicht sicher, ob Orangen nicht schon immer grau waren.
Das Küchenradio läuft aber es hat keinen Empfang und du hörst nur graues Rauschen.
Außerdem von wegen natürliches Licht, die Deckenlampe färbt alles eher Neonröhrengrau. Du ärgerst dich noch, dass du viel Geld für einen Fernseher mit besserer Farbtiefe ausgegeben hast. Kunst ist nur glorifizierte Bleistiftskizzen.
Wann du das letzte Mal einen Regenbogen gesehen hast weißt du auch nicht mehr, aber wie soll man das auch vor den Regenwolken erkennen sollen? Du bist ein bisschen überrascht so viele Gedanken an einem Tag zu haben, die meisten werden eigentlich abgesaugt. Also schnell ins Bett, Rollo runter, Licht aus, Tür zu.
Aber irgendwie wird es nicht so ganz dunkel.

Matt S. Bakausky: Fetzen

Gut, nun sitze ich also in diesem dunklen Kasten fest.
Der Duft nach verbrannten Papier ist gar nicht mal so unangenehm, nur die stickige Luft ist störend.
Leise höre ich draußen die abgemagerten Ratten durch die Dunkelheit huschen.
Als kleines Kind ekelte ich mich immer, wenn ich diese dreckigen Viecher sah.
Mittlerweile weiß ich, dass sie zwar massenhaft Krankheiten übertragen, aber nicht die
widerlichste Spezies auf diesem Planeten sind.
Gegen diese Plage gibt es genauso kein Mittel wie gegen die Ratten.
Die Nagetiere sollen mit vergifteten Futter angelockt werden, doch sozial niedrig stehende Männchen werden als Vorkoster eingesetzt und somit die anderen Ratten gewarnt.
Der Tod eines Einzelnen ist gleichgültig. Wie bei der anderen Plage auch. Es gibt nun einmal so viele davon.
Aber hier gibt es nicht mal mehr jemanden, der versucht sie zu vergiften.
Hier gibt es niemanden, der überhaupt etwas versucht.
Die Ratten selbst finden nicht genug zum Fressen und ernähren sich größtenteils von den hier verbotenerweise abgelagerten Abfällen einer dieser Billig-Schönheitskliniken. Nasen. Haut.
Und vor allem Fett. Doch diese Schuppen locken mittlerweile so gut wie keine Touristen mehr in diese Gegend.
Also werden die Ratten zu knochigen Kriechern. Sie haben keine andere Wahl. Vielleicht haben sie auch nur die Seele dieser Plastikpuppenfabriken aufgefressen und leben ihren eigenen Schönheitswahn aus. Warum sollten sie sonst gerade hier leben?
Langsam beginne ich etwas zu frieren. Die Metallwände meiner Einzimmerluxusvilla sind komplett ausgekühlt.
Luft gibt es sicher noch genug für ein paar Tage. Redet man sich zumindest ein. Ein Retter unvorstellbar. Keine Menschenseele traut sich hier her. Zumindest nicht mehr. Es ist zu gefährlich.
Nicht so gefährlich wie draußen, eigentlich. Aber das merkt anscheinend niemand.
Mittlerweile durfte der Geruch nach verbrannten Büchern dem Geruch nach meinem Eigenurin weichen. Kein angenehmer Duft, aber angenehmer als der Duft der Leute, die früher als Touristen zu den Gesichtsmetzgern kamen. Eine Geruchs-Kakophonie aus Rosen-, Lavendel, Vanille und sonstigen Parfums. Widerlich.
Aber die stickige Luft hier riecht nach Wahrheit, Aufrichtigkeit und Bahnhofstoilette.
Plötzlich höre ich ein lautes Geräusch, welches dem einer Sirene gleicht. Langsam spüre ich wie ich diesen Ort verlasse. Die Dunkelheit, der Gestank, die Luft, meine Gedanken – alles verschwindet. Ich bin frei.