Ella:r Gülden: Leehrstellen

Die allermeisten der vorzeitig gealterten Jugendlichen stehen etwas verloren am Geländer, das die Hofeinfahrt begrenzt. Einige wenige lehnen lässig an der Hauswand des Gebäudeteils mit den Verwaltungsbüros. Dort waren alle schon mal, zwecks Papierkram. Ein gerade zugezogener Lamellenvorhang verhindert, dass sie sich beobachtet fühlen müssen. Das repräsentative Vordach wirft einen mehrere Meter langen Schatten. Es ist noch nicht ganz Sommer, aber warm genug, sich hier wohler zu fühlen als auf einer sonnenexponierten Fläche. Auch die Kiste Apfelschorle muss vor Sonneneinstrahlung geschützt werden. Manchmal gibt es auch Eistee oder Spezi, beides pro Flasche zwanzig Cent teurer. Aus dem Abfalleimer quellen Verpackungen von Fleischsalat und Kartoffelsalat, teils nicht ganz restentleert. Knapp die Hälfte raucht, ein Aschenbecher ist über dem Abfalleimer angebracht. Noch elf Minuten Mittagspause.

Die Doppelkeksrolle ist wider Erwarten bereits leer. Er wirft sie auf den Haufen hinter der Tür. Unter dem Rucksack mit dem kaputten Reißverschluss entdeckt er eine Pralinenschachtel. Schade, ohne Alkohol. Cappuccino- Trüffel, immerhin. Noch zwei drin. Bröckelig und schmecken fad, egal. Er will sich aufrichten und sieht schwarz. Er atmet tief durch und zieht sich an der Türklinke nach oben. Er muss raus, doch es ist schwer. Im Türrahmen hält er noch kurz inne. Weiter ins Bad. Endlich diesen Durst loswerden. Wasser, kaltes. Wohltuend. Er trinkt gierig aus der hohlen Hand. Hält den Kopf unter den Wasserstrahl. Heute ist kein schlechter Tag. Noch drei Bewerbungen.

Jörg Hilse: Cosplay

Manche Bewohner Leipzigs schütteln sicher den Kopf, wenn während der Buchmesse wieder so ein Trupp seltsam bunt gekleideter, teilweise recht aufwändig frisierter und geschminkter Gestalten aus dem Hauptbahnhof herauskommt , um in Bahn in Richtung Messegelände zu steigen.
Cosplayer sagt erklärend der eine, ach das ist doch alles Schrott meint der andere. Aber ist die ganze Sache wirklich nur Trash oder steckt nicht diese alte unauslöschliche Sehnsucht dahinter, jemand anders zu sein als man im Leben ist. Tut ein im Verein organisierter Modelleisenbahner, der natürlich nicht damit spielt( !), sondern Fahrbetrieb macht nicht irgendwo das Gleiche? Nur eben ohne Bahner-Uniform ?
Die Dienstbekleidung hat bei der Bahn übrigens die interne Abkürzung UBK und es gibt sogar eine vorgeschriebene Trageordnung.
Bei Victor Schuster befand sie sich seit kurzem im Kleiderschrank , denn er war neuerdings bei der DB angestellt, doch daneben hing auch etwas, das kaum jemand in seiner Garderobe vermuten würde. Der Kimono von Suguro Geto, einer Figur aus Victors Lieblings- Serie Jujutsu Kaisen, einer japanischen Manga- Trickfilm- Reihe. Schon als Kind war Victor einer von den Stillen gewesen, der viel las, um sich dann mit seinen Lego- Steinen eigene Welten zu erschaffen. Schließlich trat eines Tages ein Zauberlehrling auf den Buchmarkt, der den vom alten Goethe um unendliche Längen schlug. Ein Typ mit Nickelbrille und einer seltsamen Narbe auf der Stirn, erdacht von einer Frau die einmal Klassische Altertumswissenschaft an der Universität von Exeter studiert hatte. Er hieß Harry Potter. Und dessen Schulfreund Ron Weasley wurde zu Victor Schusters alter Ego. Er erinnerte sich nicht mehr, wann und zu welchem Anlass er das erste Kostüm bekam . Wohl aber an das Gefühl, als er es anzog. Er fühlte sich frei. Frei der zu sein, der man sein wollte, losgelöst von jeder Fessel, die die Regel der Normalität einem anlegten. Und die Freude daran blieb bis zum heutigen Tag. Ereignisse die andere begeisterten wie zum Beispiel die Bundesliga interessierten ihn nicht die Bohne. Heute Morgen rief allerdings wieder mal die Pflicht. Sein Wecker klingelte kurz vor 5 Uhr früh und er zog die Bahner Uniform an. Dann stieg er ins Auto, fuhr zum Bahnhof und meldete sich im Fahrmeister-Büro zum Schichtantritt für den Frühzug nach Brüssel. „ Morgen Victor “ sagte Karl, der dort hinter einem der beiden Computerbildschirme Dienst tat. „ Dein Restaurantleiter steigt übrigens erst in Köln zu, bis dahin bleibt das Bordbistro geschlossen, hast also erst mal Gastfahrt.“ „ O.K. sagte Victor und hörte wie Karl ihm noch „Gute Schicht“ zurief, als er die Tür schloss. Schnell noch einen Fünferpack Bonrollen mitnehmen, bevor die wieder alle sind, dachte Victor. Gesagt, Getan und kaum das sie im Rucksack verstaut waren machte er sich auf den Weg zum Gleis um in den ICE nach Brüssel zu steigen. Eine Stunde später, in Köln kamen seine zwei Kolleginnen und eine von beiden öffnete die Tür zur Bordküche. Victor sagte Hallo und eine der beiden fragte: „ Bist Du unser Stewart 3 ? Kannst Du den „ Am Platz Service“ für die erste Klasse übernehmen? „Ja, klar“ antwortete Victor, bereitete drinnen die Kaffeemaschine vor und bekam den üblichen Zettel mit dem Code zum Starten des Kassensystems. Währenddessen hatten zwei etwas eigentümlich aussehende Gäste im Restaurant Platz genommen. Der Erste war ein älterer Mann mit spitzem Vollbart in einer Art Kostüm das wohl aus dem Spätmittelalter stammte zu dem er eine weiße Halskrause trug. Einen Tisch weiter, saß ein schwarz gekleideter junger Japaner der eine runde sehr dunkle Sonnenbrille trug. Perfektes Outfit für die Figur von Saturo Gojo aus Juijutsu Kaisen dachte Victor als er zu dem Gast hinüber sah. Kurz darauf, der Zug hatte gerade Aachen verlassen und Victor kam mit ein paar Bestellungen aus der 1. Klasse zurück, als etwas völlig Unerwartetes passierte. Zuerst hörte er den entsetzen Aufschrei von einer seiner Kolleginnen aus der Bordküche, gefolgt vom Geräusch zu Boden fallenden Geschirrs. Während beide wie von Sinnen mit der Zugbegleiterin in Richtung Dienstabteil rannten um sich drinnen zu verbarrikadieren, sah Victor was sich gerade ereignet hatte. Der Kopf des spitzbärtigen Mannes lag, wie mit einem unsichtbaren Scharnier zur Seite geklappt, quer auf seiner Schulter. Und aus der völlig frei liegenden Halsöffnung heraus, ragte ein halbes Stück Schinken- Käse- Baguette, welches der unheimliche Gast mit Hilfe einer Gabel tiefer hinein zu schieben versuchte.
Erstaunt sah Victor zu und ihm dämmerte, wen er da möglicherweise vor sich hatte. Nachdem der seltsame Restaurantbesucher mit einer einzigen Handbewegung seinen Kopf wieder in die alte Position gebracht hatte, fragte Victor: „ Vielleicht noch etwas Tee, Sir Nicolas? Dann rutscht es besser.“ Sie kennen mich?“ fragte der Fremde.“ „ Ja, Sie sind Sir Nicolas de Mimsy Porpington, Hausgeist von Gryffindor aus der Zauberschule in Hogwarts.“ antwortete Victor. „ Es ist sehr freundlich von ihnen mich nicht mit diesem hässlichen Spitznamen „ Der fast kopflose Nick“ anzureden “ erwiderte Sir Nicolas. „ Ach ja, mein Schicksal“ klagte er dann. „ Nun hat mir doch neulich der gute Professor Filius Flitwick einen Zauberspruch verraten, wie ich trotz meiner Geisterexistenz Speisen zu mir nehmen kann. Und wieder funktioniert es nicht richtig. Wie Sie wissen ging ja schon meine Hinrichtung, übrigens ebenfalls wegen eines missglückten Zauberspruchs schief und mein Kopf wurde mir nicht komplett abgetrennt. Inzwischen erreichte der ICE ohne vorherige Ansage durch das Zugpersonal, den Bahnhof von Lüttich. Es war also nicht mehr weit bis Brüssel.
Victor klopfte schließlich an die Tür. „ Soll ich den Gast mit dem Schinken- Käse- Baguette abkassieren?“ fragte er dann. „ Mach was Du willst, sag uns einfach nur Bescheid wenn der gruselige Typ aussteigt“ hörte er die verängstigte Stimme seiner Restaurantleiterin von drinnen. O.K. antwortete Victor und staunte anschließend nicht schlecht, das die Kreditkarte der Gringott’s Bank problemlos auf seinem Kartenleser funktionierte. Fast pünktlich erreichte der Zug die Endstation Brüssel Midi und Sir Nicolas de Mimsy Porpington entschwebte in Richtung Eurostar nach London. Victor Schuster klopfte an die Tür vom Dienstabteil. „ Er ist weg, ich geh mal kurz raus auf den Bahnsteig“. „ Gottseidank, komm aber rechtzeitig wieder“ hieß es erleichtert von drinnen. Draußen stand auf einmal der schweigsame Japaner neben ihm. Seine dunkle Sonnenbrille hatte er gegen eine schwarze Augenbinde ausgetauscht. Und Victor hatte plötzlich die Gewissheit dass, auch er kein Cosplayer war.
„ Da Du gewusst hast wer er war, weißt Du bestimmt auch wer ich bin, nichtsdestotrotz hier ist meine Karte“ sagte der Fremde. Victor nahm sie an sich und stutzte dann doch.“ . „Saturo Gojo, Jujutsu Akademie Tokio“, stand in japanischen wie auch lateinischen Buchstaben auf der Visitenkarte. „ Was wollt ihr denn ausgerechnet von mir?“ fragte Victor gespannt . „ Ich hab einen Job für Dich“ antwortete ihm der junge Mann mit der Augenbinde.
„ Die Akademie sucht einen Gefahrenstufen- Analysten für europäische Fluchgeister und sonstige Phänomene. Wenn Du einverstanden bist, schreib einfach eine Mail an die Adresse auf der Rückseite der Karte. Das Flugticket schicken wir Dir dann.“ Einen Tag nach der Ankunft in Frankfurt schickte Victor die Mail nach Tokio und brach zwei Wochen später auf ins Land seiner Träume, Japan.
Jammerschade , finden manche seiner Kollegen bei der Bahn.

Christian Knieps: Für was Verben?

Eine kaum zu identifizierende Leiche, grässlich zugerichtet, auf dem nackten Boden, der blutdurchtränkte, in der gleißenden, unbarmherzigen und an dem Geschehen unbeteiligten Sonne, mit massenhaft schwirrenden Fliegen überall, dieses eindringliche gleichfrequente Summen, dieser beißende, bleierne Geruch nach fortgeschrittener Verwesung, beginnende Zersetzung allen ehemaligen Lebens, hinaus nach dem längst eingetretenen Tod. 

Starke, höchst emotionale Ablehnung von meiner Seite aus, die Ermittlung, nicht mein Wunsch, großer Drang nach Weglaufen, doch hier, an diesem Ort, meine neue, ungewollte Ermittlung, dieses menschliche Desaster vor mir und in meinem schmerzenden Kopf. 

Der eigenartige, äußert mitteilsame Täter, seine exakte Adresse und Handynummer auf der ansonsten zugerichteten, vor uns liegenden Leiche, penibel saubere Schrift, fast zu perfekt, nahe an einer gedruckten Druckschrift, comic sans serif, diese spaltende Schriftart, geliebt oder verhasst. 

Meine überaus engagierten Kolleg:Innen, unterwegs zu der auf der Oberhaut der Leiche angegebenen Adresse, ausgeschaltetes Blaulicht, keine unnötige Aufmerksamkeit, auch wenn der vermeintliche Täter, der mitteilsame, die Ankunft erwartungsfroh, am dreckigen Fenster hinter dem ebenfalls dreckigen Vorhang erkennbar, zitternd und über den Maßen stark schwitzend. 

Ein vermeintlich einfacher Einsatz, in Sicherheitsausrüstung anrückende Kolleg:Innen, gepanzerte schwarzgefärbte Kevlarprotektoren, vorsichtiges, koordiniertes Vorrücken, der nervöse Täter hinter dem durchscheinenden Vorhang, erwartungsgespannt auf die nähere Zukunft, die langsamen, zähflüssig verrinnenden Sekunden. Näherung, minutiös kontrolliert, professionelles Training und exakte Umsetzung, einem ballettesken Schwanentanz gleich, Kommandos per abgesprochenen Zeichen, Umstellung des baufälligen Hauses, Klärung der Bereitschaft aller beteiligten Einheiten Zugriff, Sturm durch die nicht abgeschlossenen Türen vorne und hinten, Drücken des Knopfes trotz allen Schweißes, augenblickliche Zündung der angebrachten, versteckten Bomben, grande catastrophe, unsere geordnete Welt völlig anders als zuvor.

Elias Hirschl: Was normal ist

eine Produktion von „moïs“ (Katrin Rauch mit Elias Hirschl)

Es ist normal der Sau eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal die Sau bis ins Wohnzimmer schreien zu hören. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen. Es ist normal die Schweineborsten mit einer Metallkette abzurubbeln. Es ist normal die Schweinehälfte neben der Waschmaschine zu zerlegen. Es ist normal das Schweineblut in einem erwärmten Eimer aufzufangen und tüchtig durchzurühren damit es nicht gerinnt. Es ist normal etwas Salz hinzuzufügen. Es ist normal die Muskelabfälle vom Zuschneiden des Schlegels zusammen mit dem Fett in Wasser vorzukochen, den halbweichen Speck in Würfel zu schneiden und die Fleischabfälle mit der Schwarte und den vorgedämpften Zwiebeln durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal Gewürze dazuzugeben. Es ist normal zusätzliches Salz hinzuzufügen falls das Blut zu süß schmeckt. Es ist normal die Därme auszuschaben mit einem Spachtel. Es ist normal die dickflüssige Blut-Muskelabfallmasse nach dem Abschmecken in die vorbereiteten Därme zu pressen. Es ist normal die Därme nach dem Abbinden zurück in die heiße Kochbrühe zu tun und sie bei 70 bis 80 Grad eine halbe Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal die Därme mit einer Nadel anzustechen um zu sehen ob kein Blut mehr heraustritt. Es ist normal die Därme dann aus dem Wasser zu ziehen und sie zum Abtrocknen über Stangen zu hängen und sie nach Belieben etwas anzuräuchern. Es ist normal die Därme dann einzukühlen um sie in ein paar Tagen der Hochzeitsgesellschaft zu servieren.

Es ist normal sich davor zu fragen, ob man wirklich nicht mit dem Bräutigam verwandt ist. Es ist normal den Bräutigam vor seiner Hochzeit halbnackt in einen fahrbaren Käfig zu sperren. Es ist normal den Bräutigam an einer Holzleiter festzubinden. Es ist normal ihn mit einem Feuerwehrschlauch abzuspritzen. Es ist normal dem Bräutigam mehrere Flaschen Schnaps mit einem Schlauch einzuleiten. Es ist normal die Hose des Bräutigams um Mitternacht zu verbrennen. Es ist normal die Braut zu entführen und ihre Schuhe an einen Baum zu nageln. Es ist normal am nächsten Tag die Blunzn der Familie zu servieren. Es ist normal den Schweinekopf aufzuheben, um ihm bei der nächsten Gelegenheit einem unverheirateten Mann zum 30. Geburtstag in den Vorgarten zu werfen.

Es ist normal nach sechs Monaten Ehe ein Kind zu gebären, was einen sehr wundert, weil man ja bis nach der Eheschließung gewartet hat mit dem ersten Mal. Es ist normal ein Haus zu bauen und sich eine Katze zuzulegen. Es ist normal den ungewollten Katzenwurf in einen Sack zu stecken und in einen Eimer Wasser zu tunken bis keine Luftblasen mehr kochkommen. Es ist normal dem neugeborenen Baby Ohrlöcher stechen zu lassen damit es schon mal welche hat, nur zur Sicherheit. Es ist normal das Kind von klein auf mit ordentlicher Hausmannskost großzuziehen. Mit Blutwurscht, Blunzngröstl, Wiener Schnitzel, Schnitzelsemmel, Tafelspitz, Beuschl, Kaspressknödel, Grammelknödel, Hascheeknödel, Leberknödel, Milzschnitten, Geselchtem, Lammgulasch, Schweinsgulasch, Rindsgulasch, Kartoffelgulasch mit Rindfleischeinlage, Kalbsrahmgulasch, Backhendl, Backhendlsalat, Schlutzkrapfen, Kärntner Kasnudeln, Reindling, Zwiebelrostbraten, Topfenknödel, Germknödel, Tiroler Gröschtl, Hirschgulasch, Wildschweingulasch, Schinkenfleckerl, Krautfleckerl mit Schinken, Bauernschmaus, Brettljausn, Entenbraten, Altwiener Suppentopf mit Rindfleisch, Saumaisen, Mühlviertler Speckknödl im Reindl, Schweinsbraten im Reindl, Kärntner Laxn, Burenwurst, Käsekrainer, ein Hamburger um 1,40, 3,20 im Menü mit Pommes, Saftgulasch, Gulaschsaft, Ei im Glas, Gulaschsaft im Glas, Grammelschmalzbrot, Kaiserschmarrn mit Zwetschgenröster, Wammerl, Rindfleischsalat, Wurschtsalat, Saure Wurscht, Selchroller, Rollmops, Surbraten und Krenfleisch.

Es ist normal vor dem Essen ein Tischgebet zu sprechen. Es ist normal zu sagen: Lieber Gott im Himmel, wir danken dir, dass du uns das Blunzngröstl bescheret hast. Danke lieber Gott für das Beuschl. Danke lieber Gott für den Schlutzkrapfen. Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, gebenedeit ist deine Brettljause, gebenedeit sind deine Saumaisen, gebenedeit ist dein Gulaschsaft, deine Selchroller, deine saure Wurscht mit rohen Zwiebeln, dein Verdauungsschnaps, dein zweiter Verdauungsschnaps.

Es ist normal sich von den Kindern heimfahren zu lassen weil man zu besoffen ist selber zu fahren. Es ist normal sich in der Weihnachtszeit als Teufel zu verkleiden. Es ist normal fremde Kinder in einen Sack zu stopfen und mit einer Gerte zu verdreschen. Es ist normal, wenn einem mal die Hand ausrutscht. Es ist normal, wenn das Kind ein bisschen abgehärtet wird, ein bisschen aufs echte Leben vorbereitet. Es ist normal dem Kind zu sagen, dass es nicht weinen soll. Es ist normal, ihm für den Kirchtag ein Dirndl anzuziehen, auf dem mit der Position der Schleife ausgeschildert ist, ob es vergeben, single oder Jungfrau ist. Es ist normal, dass der Ehemann nicht mehr ich liebe dich sagt, man sagt ja auch selber nicht mehr ich liebe dich. Es ist normal nicht mehr geliebt zu werden. Es ist normal nicht mehr zu lieben. Es ist normal den Kontakt zu seinen Kindern zu verlieren. Es ist normal keinen Besuch mehr zu bekommen. Es ist normal, dass sich mehrere ehemalige Schulfreunde besoffen mit dem Auto tot fahren. Es ist ja auch normal, dass man selber besoffen fährt, jetzt wo die Kinder weg sind. Es ist normal noch einmal mit den Kindern Silvester feiern zu wollen, Schwarzpulver in Kartonröhren anzuzünden, sie in den Himmel zu schießen und dabei zuzuschauen, wie sie in bunten Farben explodieren.

Es ist normal Biskuits in Fischform zu essen und Sekt mit kleinen Plastikschweinchen darin zu trinken. Es ist normal geschmolzenes Blei vom Löffel ins Wasser fallen zu lassen und aus den entstehenden Formen die Zukunft vorherzusagen. Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Es ist normal einen Streit mit den Kindern anzufangen. Es ist normal seine Tochter anzuschreien, dass die Globuli sehr wohl etwas helfen, weil damals haben die ja auch gegen die Erkältung geholfen und die Bachblüten gegen die Prüfungsangst und immerhin hat sie ja jetzt ihren Schulabschluss, also soll sie nicht so undankbar sein. Es ist normal, dass der Ehemann währenddessen mit der Gerti schmust, weil es ist ja schließlich Silvester. Es ist normal, dass der Ehemann in letzter Zeit immer später von der Arbeit kommt. Es ist normal, dass der Ehemann einem vorwirft, dass man selber Schuld daran sei. Es ist normal, dass er sich die Aufmerksamkeit, die Spannung, die Aufregung bei der Gerti sucht, weil die Gerti eben aufmerksamer, spannender und aufregender ist, so wie die Susi damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie die Sabine damals aufmerksamer, spannender und aufregender war, so wie man selbst früher aufmerksamer, spannender und aufregender war. (Es ist normal sich Vorsätze fürs neue Jahr zu machen. Einen Strich ziehen, ein neues Jahr, ein neues Ich.)

Es ist normal, am nächsten Morgen früh aufzustehen und den Polterkäfig vom Dachboden zu holen. Es ist normal dem Ehemann eins mit dem Holzscheit über den Schädel zu ziehen. Es ist normal ihn bis ins Wohnzimmer schreien zu hören, während man frühstückt. Es ist normal die Sau ausbluten zu lassen und das Blut in einem vorgewärmten Eimer aufzufangen. Es ist normal, die Sau durch den Fleischwolf zu jagen. Es ist normal, die Sau in die eigenen Därme zu stopfen und eine Stunde ziehen zu lassen. Es ist normal, sich das Dirndl der Tochter anzuziehen und mit der Position der Schleife bekannt zu geben, dass man jetzt wieder single ist. Single and ready to mingle. Es ist normal, den Kopf der Sau in den Vorgarten zu werfen, auf den Rasenmäherroboter und im Liegestuhl sitzend zuzuschauen, wie er herumfährt zwischen dem gestutzten Unkraut, zwischen den Kürbissen und Zucchinis und den Gartenzwergen.

Christian Knieps: Mein Hund, mein Wahnsinn

Ich halte mich für einen glücklichen Mann, wenn alles in seinen rechten Bahnen läuft. Dann entschied ich mich dazu, mir einen Hund anzuschaffen und erschuf gleichzeitig meinen eigenen Wahnsinn.
Der Plan war denkbar einfach: ich hole mir einen Welpen, nehme einen ganzen Monat Urlaub, erziehe ihn und sorge dafür, dass er stubenrein wird, und gehe, wenn das Gröbste überstanden ist, wieder arbeiten. Abends würde mich dann freudestrahlend mein treuer Begleiter erwarten, mit dem ich zum Toben auf die Hundewiese gehen könnte.
Als ich Tommy das erste Mal sah, war ich sogleich dahingeschmolzen. In die sanftmütigen Labradoraugen verliebte ich mich auf den ersten Blick und so zog Tommy bei mir ein. Der erste Monat war dann auch der Himmel auf Erden! Ich hatte Urlaub, konnte den ganzen Tag den kleinen Welpen umsorgen, ihn bespaßen und mit ihm draußen sein.
Alles war perfekt, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich wieder arbeiten ging. Wie jeden Morgen war ich früh mit ihm eine große Runde gegangen, dann aber den ganzen Tag unterwegs gewesen, und als ich abends nach Hause kam, wollte ich die Türe lieber wieder zumachen und gehen.
Tommy stand zwar schwanzwedelnd vor mir und freute sich über alle Maßen über meine Rückkehr, doch meine Wohnung hatte nur noch wenig mit der zu tun, die ich verlassen hatte. Kopfkissen waren zerfetzt, alle Schuhe, die draußen gestanden hatten, waren angenagt – ein erstaunliches Ergebnis, wenn man bedenkt, dass der Kleine erst knapp vier Monate alt war. Vasen lagen auf dem Boden, die Blumen waren angeknabbert, Tischbedeckungen waren zum Teppich umfunktioniert worden und ob ich jemals die Fernbedienung meines Fernsehers wiederfinden würde, stand noch in den Sternen.
Ich wollte ausrasten, durchdrehen, doch Tommy freute sich nur, mich zu sehen. Ich konnte nicht anders, als mich zu ihm zu bücken und ihn zu streicheln. Die Tränen in meinen Augen leckte er weg und ich war augenblicklich wieder verliebt. Trotz des Chaos und trotz des Wahnsinns, der in mir erwachsen war und den ich die nächsten Monate stetig bekämpfen musste.
Ich probierte es mit noch längeren Spaziergängen, Suchspielen, Apportieraufgaben, sogar mit einem Laufband versuchte ich es, doch Tommy war nicht zu stoppen, wenn ich nicht zu Hause war. Ich hatte – man konnte es gar nicht anders sagen – einen hyperaktiven Kontrollfreak großgezogen, der durchdrehte, wenn er nicht wusste, was er mit seiner Energie machen sollte.
Das alles geschah vor drei Jahren. Inzwischen haben wir uns beide mit der Situation arrangiert. Er darf mich kontrollieren und ist ein wenig erwachsener geworden, und ich habe zusammen mit meiner Wohnung einen massiven Veränderungsprozess durchlaufen. Seit neuestem frage ich mich, ob ich durch Tommy unfähig geworden bin, eine Beziehung zu einem anderen Mann einzugehen. Aus Angst vor Tommys Eifersüchteleien.
Doch dann kam das Glück zurück, und Arne trat vor kurzem in mein Leben, der selbst zwei Hunde hat. Zwei Hunde, die so gar nicht wie Tommy sind. Erzogen und mit perfektem Sozialverhalten. Es knallte kurz, als wir alle fünf das erste Mal aufeinandertrafen, doch siehe da – Tommy war auf einmal wie ausgewechselt. Plötzlich hatte er seine Aufgabe im Rudel gefunden. Und so langsam verschwindet auch mein Wahnsinn. Nur auf dem Boden werde ich nichts mehr liegen lassen. Nie wieder! Versprochen!

Christian Knieps: CERN

Mein Mann und ich sind unterwegs zum CERN. Er will da unbedingt hin, während ich nur dabei bin, damit er nicht allein fahren muss. Dafür hat er mir versprochen, beim nächsten Besuch bei meiner Mutter dabei zu sein, denn wenn er dabei ist, ist meine Mutter meistens die Freundlichkeit in Person.
Auf dem Weg zum CERN bekomme ich eine Zusammenfassung seines Wissens, das ich kaum bewerten kann, weil ich weniger als die Hälfte verstehe. Nach den ersten Fragen lasse ich auch das Fragen sein, weil ich merke, wie angespannt er wird, wenn ich zeige, dass ich so gar keine Ahnung von dem Ganzen habe.
Als wir endlich ankommen, freue ich mich auf etwas Bewegung. Wir treten in das Eingangsgebäude und treffen andere Teilnehmer der heutigen Führung. Auf den ersten Blick erkenne ich, dass es nur eine potentielle Leidensgenossin gibt, doch sie ist so gekleidet, dass sie auch Physikerin sein könnte. Also ist Vorsicht geboten.
Die Führung beginnt. Der Mann, der uns Einblick in das Wunderwerk der Technik gibt, ist mir in seiner leicht verpeilten Art direkt sympathisch. Meinen Mann nervt sein nasaler Tonfall. Wir werden durch das Gebäude geführt, die meisten, die den Eindruck machen, dass sie wissen, was hier geschieht, wirken von der Führung gelangweilt. Ich hingegen finde sie sehr interessant, da sie nur wenig Wissen voraussetzt. Zudem spüre ich, wie der Vortragende eine Begeisterung für diese Forschungseinrichtung versprüht, wie es Männer normalerweise nur für ihren Fußballverein machen.
Als sich die Führung zum Ende neigt, bin ich positiv überrascht, während mein Mann mir schon verraten hat, dass das hier pure Zeitverschwendung für ihn sei. In den Gesichtern der anderen Teilnehmer sehe ich eine ähnliche Meinung, auch in dem Gesicht der einen Frau, von der ich nicht erahnen konnte, mit welchem Wissenstand sie hier angereist ist. Zum Glück habe ich mit ihr kein einziges Wort gewechselt.
Die Führung wird beendet und es gibt zurückhaltenden Applaus. Schnell gehen alle auseinander, nur ich trete an den Wissenschaftler heran und sage ihm, dass mir seine Führung sehr gefallen hat, wenn ich nicht sogar begeistert davon bin. Wir kommen ins Gespräch und ich vergesse meinen Mann, der irgendwo im Verkaufsladen nach Fachliteratur sucht, von der er wohl kaum etwas verstehen wird. Hauptsache, er zeigt, wie sehr er in dem Thema drin steckt. Nach außen, versteht sich.
Wir beide hingegen machen uns über die Besucher lustig. Ich kann offen zugeben, dass ich nicht mal alles das verstanden habe, was der Wissenschaftler uns erklärt hat, aber er ist sich sicher, dass die anderen Besucher auch nicht mehr verstanden haben, es nur nicht zugeben wollen.
Auf dem Nachhauseweg schweigen mein Mann und ich lange, bis er äußert, wie enttäuscht er von dem Besuch ist. Ich überlege kurz, ob ich ihm die Wahrheit sage, doch ich weiß auch, dass er noch weitere solche Besuche in seinem Kopf hat. Und so entscheide ich mich zu einem nichtssagenden Geräusch, das bei ihm als Bestätigung ankommt.

Andii Weber: Tiny Dancers

Komplettes Layout im Originalskript auf Google drive

<- stehe ich wieder im raum und danze. die wahrheit interessiert mich nicht, mich interessiert DEINE wahrheit, verstehste?

guter Sound, wummerich und breit, DRdrdrECKIG. massiert die herzchen heute nacht. es rauscht, tropFtropFtropF DJ guckt unnahbar und mit dem kaviarschwarzen pulli (trauerFloor) gepellt wie aus dem EI aus, ist aber eigentlich voll am lachsen in’s Fäustchen und so. der tanzFlur ist leicht abschüssig, immer mehr gute tropFen Fallen auf den ballsaalboden, Fütze, riesige rinn(sale, (eau sale)), winzige sturzFluten, die all die Füße auf dem floor wegziehen, uns alle Ferschwimmen lassen, Flussaufwärts, Fischtreppen, hinauF, hinauF, whatafeelingwhenweredancingontheceiling gibt es hier überhaupt eine decke?

in der schwerfällig bewegten luFFFt (= bass) um uns rum: je nach individuellem geschmack und bedürfnis weite oder enge klklklkeidung, stacheldrahtkettttttten, bauchnäbel. die tanzFläche ist aus dem mittelalter glaub, oder aus dem märchen aber egal, heute ist ja heute BRRRholdmecloserBRRR. wir oszillieren in den böhen, im Fööööön, der beat knickt Kreise ins Korn und wir sind da mitten drin. dann schau ich kurzRTZRTZRTZ zu der einen Seite (dich an) und du zur anderen (mich an) und dann lachst du allwissend und wir RTZELRTZONjohnRTZRTZ.

aales Fällt auseinander, aber genau so, wie es soll !”§$%&/()=?[SCHNITT] ich grabe meine Fingerkuppen hinein in deinen Rücken, nur ein bisschen. muskeln, knochen, Fühle deine gräten ((((((((das “gräten” bitte so überbetont aFFektiert lesen)(das in den klammern dann auch), mit dem imaginären Fischmesser das Fleisch sorgfältig abziehen, an der haut herumschnieFen,, dieser slipperigen Fishhaut aus polyester die das alles irgendwie beisammen hält,,, dann hals,, Flaumig und ein bisschen schuppig, knibbeln:: ein sehniger korb, komprimierte geheimnisse darin. FeFFerkuchen oder pilze? ist ja auch egal WAS GENAU, solange da nur ein blutiges HerzrtzrtzrtzrtzrtzwrsrwsWASgenaudadrinist.HUI ein roter ApFell! und dein bariton knurrt sonor:: KOSTE doch MAL, hübsches!

irgendwo unter deiner haut — vielleicht gleich neben den schwimm- gallen- und giFFFtblasen — ist sicher ein gemeinsames verständnis vergraben, das uns (ab/ver)bindet von/vor/mit der welt, wie einer dieser schlüssel, den ich da einfach rausziehen machen kann und die tür zum nächsten rätsel auf, zu einer neuen wahrheit. und sie lebten glücklich bis an’s#Feelings interessieren mich nicht, mich interessieren D3IN3 Feelings, verstehst du mich bitte?

Menschen sind so krass manchmal, so krass geil.(GPT: “Hier könnten Sie mehr Kontext oder Details hinzufügen, um die Krassheit und die Geilheit der Menschen weiter zu erklären” — die maschine versteht es einfach nicht) Ja, scheisse auch oft, meistens, aber hier, auf dem märchentanzFlur, da sind’s einfach scheissegeil. und Finden sich auch einfach so. und gehen heim, irgendwann, wenn es wieder hell wird und dann ->

Ferenc Liebig : Die Wirklichkeit in kleinen Teilen

Man würde mich in die Berge schicken, dort, so sagte man, habe man eine neue Methode entwickelt, Prozesse des Unsichtbaren sichtbar zu machen. Ein gewisser Professor Beringer hatte erst vor kurzem eine Abhandlung geschrieben, in der es hieß, man könne nun in die Welt der Moleküle hineinschauen, Anregung und metastabile Zustände definieren. Sein Fazit lautete, ab jetzt bliebe nichts mehr im Verborgenen. Die Geheimnisse der Welt würden sich auflösen, wie ein vorher undurchsichtiger Nebel. Mein Doktorvater meinte, diese poetischen Abschlusszeilen hätte man sich sparen sollen. Darin ließe sich nicht die nötige Ernsthaftigkeit finden, die dieses Thema verdient hätte. Aber die Auswertung der vorliegenden Messdaten beeindruckten ihn. Die Modellrechnungen zeigten, so war er sich sicher, den Ursprung einer Veränderung in unserer Wahrnehmung. Man könnte meinen, dass wir an dieser Stelle den Nullpunkt zwischen Vergangenheit und Zukunft setzen werden. „Es wäre eine Schande“, sagte er, „ihre Überlegungen und bisherigen Ergebnisse nicht mit diesem System untersuchen zu lassen.“
Man begleitete mich zum Flughafen und sagte mir, dies könnte der größte Durchbruch sein, den die Wissenschaft bisher erlebt hat. Vom Eifer gepackt, standen wir mit meinen Koffern neben der Haltebucht und glaubten, spätere Biographen würden diesen historischen Moment meines Abflugs mit großen Worten bedenken. „Was es bedeuten würde, wenn wir die Zusammenhänge verstehen könnten. Eine Energiewende, eine Revolution in der Pharmaindustrie, unendliches Leben vielleicht.“ Mein Doktorvater drückte mir einen Brief in die Hand. „Für Professor Beringer.“ Er sah mich nachdenklich an und gab mir den Hinweis mit auf den Weg, es würde sich um einen sehr scheuen Mann handeln, der in der Welt der Wissenschaft nicht immer ganz unumstritten war und dem man einen schweren Charakter und ein gewisses Dasein als Eigenbrötler zuschrieb. Nicht ohne Grund hätte er mich ausgewählt. Nicht wegen meiner Leistungen auf dem Gebiet der Elektronenverschiebung, sondern aufgrund meiner Diplomatie, den Umgang mit Kritik, meinen schier endlos ausrollbaren Geduldsfaden. Es wäre hilfreich, ihm nicht zu widersprechen.

Mit einem Stapel gebündelter Publikationen saß ich im Flugzeug und blickte aus dem ovalen Fenster auf die feuchte Landebahn. In Der entzauberte Regenbogen behauptete Richard Dawkins, dass das Wunderbare nicht weniger wunderbar wird, wenn wir es erklären können. Aber was würde geschehen, wenn sich die Komplexität der Welt herunterbrechen ließe, auf eine einzige Formel, wenn Heisenbergs Vermutung sich als richtig herausstellen würde, sein Ansatz nur falsch gedacht war, alles plötzlich erklärbar wäre, wie würden wir damit umgehen, wenn wir in den Nachthimmel schauen, ohne Faszination, ohne den Glauben an mehr, was würde das aus uns machen, wenn die Neugier nur noch ein Artefakt, die Existenz eines Gottes nur noch eine Randnotiz ist. Ein Gewitter hatte sich zusammenbraut. Kurz beschäftigte die Passagiere die Frage, ob der Flug überhaupt stattfindet, aber zur Erleichterung aller, entschied sich der Pilot für einen Start. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Zahlen, Buchstaben, Symbole erschienen mir in ungeordneter Reihenfolge, als würden sie verlangen, sortiert, zu einem höheren Sinn zusammengesetzt zu werden, aber es war mir nicht möglich, sie zu greifen. Als das Flugzeug abhob, begannen die Kopfschmerzen. Die Euphorie schlug in Mattigkeit um. Die Augen wieder öffnend, lag unter mir das winzige Berlin, eine Miniaturstadt, wie ein Modell, ohne Menschen, ohne Leben, dennoch wunderschön anzuschauen.
Mit anbrechender Dunkelheit knackste der Lautsprecher. Der Pilot sprach von Turbulenzen. Nicht sonderlich schweren, aber man wolle Panik vermeiden. Vor zwei Wochen war erst eine Maschine abgestürzt, die Leichenteile in einem Waldstück verteilt gefunden worden. Man wusste, solche Bilder und Information hätten sich noch nicht weit genug aus unserem Gedächtnis entfernt, um der Wahrscheinlichkeit eines Absturzes mit statistischer Logik zu begegnen. Mit Eintritt in die Wolkendecke wurde es holpriger. Ich dachte an die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen meines Doktorvaters. Seit meines ersten Gespräches mit ihm, fragte ich mich, ob er diese besonders reinigen würde, mit einem Wattestäbchen zum Beispiel und wie die Haut dazwischen aussah, wenn man die Falte auseinanderschob. Ein Tal der Ungewissheit, dachte ich schmunzelnd, als der Pilot wieder zu uns sprach. Ein Gewitter sei vor uns, nicht möglich zu umfliegen, aber wir sollten uns keine Sorgen machen, man hätte schon häufiger solche Situation erlebt und wie man bemerken würde, bisher auch alle überlebt. Ein grunzendes Lachen beendete die Durchsage.
Es wurde einiges durcheinandergeschüttelt. Koffer regneten aus den Ablagefächern, eine Stewardess stolperte und hielt sich ungünstiger Weise an dem Kopf eines Passagiers fest, dessen Frau nicht besonders amüsiert darüber erschien, als ihre Brüste seine Wangen streiften, ein paar Sauerstoffmasken baumelten hinab und Gläser, ob gefüllt oder leer, fielen zu Boden und rollten nun kreuz und quer zwischen Gang und Sitzen entlang. Der Herr neben mir, ein hochdekorierter Anthropologe, der auf dem Weg zu einem Kongress in einen Nachbarort meines Zieles war, begann Stoßgebete zu flüstern, bis ich ihn vorübergehend beruhigen konnte. Mit simpler Mathematik erklärte ich ihm, dass die eigentliche Differenz zwischen Leben und Tod so gering sei, dass man schon die Nachkommastellen beachten müsste. Auch erzählte ich ihm von meiner Idee, der Nichtzugehörigkeit von Elektronen, diesem wimmelnden Wirrwarr an Energie, diesem Theorem, dass falls die Messungen ähnliche Tendenzen aufwiesen, dies der Welt der Physik den Atem stocken lassen würde. Ob er verstünde, fragte ich ihn, aber anstatt staunend zu applaudieren, wendete er seinen Blick ab und sprach wieder zu Gott, der doch an seine Familie denken sollte, die Kinder und Enkelkinder und die Trauer und wie viel noch entdeckt werden muss, er müsse noch so vieles entdecken und diesmal unterbrach ich ihn nicht, schaute aus dem Fenster in die Lichtblitze, die sich in den Wolken sammelten und spürte im Angesicht dieser Schönheit ein seltsames Glück, dass nur mit einer Theorie zu vergleichen ist, die sich von der Praxis belegen lässt.
In der Schule noch mit Niels Bohr konfrontiert, der seine Elektronen auf Kreisbahnen um den Kern schickte, kam später Erwin Schrödinger in die Bücher, der über ein mathematisches Modell die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten der Elektronen im Atom bestimmen konnte. Mittels Wellenfunktionen ließen sich die räumliche und zeitliche Entwicklung des Zustandes eines Quantensystems beschrieben. Als ich erstmal davon hörte, war ich endlos begeistert. Ich versuchte zu lesen, was es zu lesen gab. Fachbücher, Publikationen, Abrisse, biografische Notizen, Tagebucheinträge. Und je mehr ich las, desto ergriffener wurde ich. Meine Anschauung, mein alltägliches Verständnis von einfachsten Ausführungen, mein Bewusstsein für Details veränderte sich mehr und mehr und an Tagen, an denen ich hunderte Seiten studierte, in die Beschreibungen versank. Die Welt stellte sich anders dar, nicht mehr nur dreidimensional, sondern als ein Gebilde, eine Membran, in der sich alle Kräfte und Teilchen aufhielten. Daran musste ich denken, als der Pilot wiederholt zur Ruhe ermahnte und seine zehntausend Flugstunden als Garantie hergab, dass wir uns in sicheren Händen befanden. Leider konnten seine Worte herzlich wenig ausrichten, als der rechte Flügel einknickte und der Rumpf sich wie eine Treppenläuferspirale zu verziehen drohte.

Bei brennenden Triebwerken öffnete ich den Brief meines Doktorvaters. Ich wusste, er würde es nie erfahren. Wer sollte es ihm verraten, dachte ich grinsend, während sich das Flugzeug vornüber neigte und der hochdekorierte Anthropologe nun zitternd Bibelverse zitierte. Ich entnahm den Brief aus seinem Umschlag und entfaltete das Papier. Von draußen hörte man das geisterhafte Surren des Windes, das Rauschen von Geschwindigkeit, im Innern das Kreischen und Übergeben von Insassen, die jedwede Hoffnung aufgegeben hatten, dieses Flugzeug unbeschadet zu verlassen. Lieber Herr Beringer, stand da, mein Student, Sie werden ihn zu schätzen wissen, hat in den letzten drei Jahren seiner Promotion interessante, ich würde sagen, Erleuchtungen gehabt, wie ich vorher noch keinen meiner Promovierenden habe Erleuchtungen sehen gehabt, aber dies ist nicht das eigentlich Aufregende, das wirklich Aufregende ist, dass er erst am Anfang steht, selbst noch nicht weiß, zu was er fähig ist und ich Ihnen zusichern kann, er wird seinen Durchbruch erleben, bestenfalls mit Ihrer Hilfe. Gemeinsam wird es möglich sein, seine Vision zu vervollständigen und eine komplett neue Auffassung für unser Universum zu erlangen. Aber seien Sie streng mit ihm. Er neigt zu Höhenflügen und verschiebt schon durch leichte Ablenkungen seinen Fokus. Mit freundlichsten Grüßen, Prof. Dr. Dr. Mathuren. Ein wenig stolz auf diese Einschätzung, schloss ich den Brief und konnte nun schon flache Berge erkennen, auf die wir ungebremst zurasten.

Kurz vor dem Aufprall, dachte ich an meine Mutter, wie sie in der Küche vor einem übergroßen Suppentopf stand. Sie sagte, „komm schon mein Sohn“ und ich ging auf sie zu und sie wies mich an, einen Blick in den Topf zu werfen. „Dort ist deine Lösung“, rief sie aus. Ich beugte mich vor, doch anstatt kleingeschnittenes Gemüse vorzufinden, war es der Moment vor dem Urknall, den sie mit einer gemächlichen Bewegung herbeirührte. Ich wünschte mir, ihr rechter Arm hätte nicht mein Sichtfeld eingeschränkt, dennoch konnte ich eindeutig den Punkt erkennen, in dem sich die gesamte Energie sammelte und nicht nur das, ich verstand auch, warum sie sich genau in diesem Punkt sammeln musste, warum es keine andere Möglichkeit als diese gab. Unsere Blicke trafen sich. „Bis gleich“, sagte meine Mutter und ließ den Topfdeckel fallen.

Ella:r Gülden: Granatsplitter

Ausnahmsweise … wird ein Film über einen männlichen Künstler nur mit
dessen Vornamen betitelt:
‚Anselm‘
… kann sich einreihen hinter Frida, Paula, Tove und vielleicht neben ‚Lotte am Bauhaus‘.
Jedenfalls reist er nicht im ‚Schatten von
Caravaggio‘ ins ‚Daliland‘.
„Anselm Kiefer — Alchemist, Provokateur“
‚Der größte Mythos ist der Mensch selbst‘, sagt er, einfach so (reingeschnitten, in den
Trailer) und verbrennt zuvor groß aufgestellte Bündel von Ähren und es raucht sehr, auch auf seinem Bild von früher so, wegen der Sieglin… äh Suh‘-lamith:
‚Dein goldenes Haar Margarete‘
– dazu eine Vanillestange vom Backwerk,
Verkauf ab Werk
brandneue Treter vielleich’ auch
an die Krautstampfer,
reimt sich auf Sauerampfer
– vielleicht das erste, was jemand mampft, wenn sie:er ins Gras beißt. ‚Another one bites the dust‘ – not yet. … Drah di ned um!, nur die zwei Euro, diese Zwickel, bitte, vielleicht ist der Erasmus von Rotterdam drauf, oder der Willy Brandt beim Kniefall in Warschau oder moderne Kunst aus Griechenland. Sammeln tun wir die trotzdem nicht. Der Sparfuchs muss jetzt kleinere Brötchen (auf)backen, und die Kröten beisammen halten …1,2,5,7: wo ist denn der Schmalhans Küchenmeister geblieben?

… Es pfeift inflationär von den Dächern, lieber einen Spatz auf dem Dach, als gar keine Taube.
Alle Vögel sind noch nicht da – viele Vögel sind bald weg. Flügge geworden, oder aus dem Nest gefallen, noch kein Ei gelegt:
Au Backe backe Mutterkuchen …!
Man sieht ihnen ihr Alter gar nicht an;
alt genug für die Schwarzwälderkirsch, zu jung für die Schwarzwaldklinisch. Es gibt übrigens eigentlich schon lange keine Granatsplitter mehr, als konditorische Spezialität zu erlangen!?

„ich hab ölige hände und öl in meinem bauch“
singt derweil Sophie Hunger (in 1983),
so ist das beim Snacken, Fingerfood: heiß und fettich
… Gewürzschnitte und halbe butterseele
nussecke und käselaugenstange
kürbiskernsemmel und quarktasche
soweit und so lecker das
Lieblingssortiment vom Pausenbäcker.
„Sinz“ hieß der,
– sind’s genug Pfenning’ne!?
[Den Cent’er Shock gab’s auch schon früher beim Bäcker]